Roman Mazierski

In Polen, meinem Geburtsland, gehören über 92 Prozent der Bevölkerung zumindest der Form nach zur römisch-katholischen Kirche – so auch die Familie, in die ich 1899 hineingeboren wurde. Als Siebenjähriger kam ich in die Grundschule. Neben den üblichen Schulfächern erteilte uns ein Priester Religionsunterricht. Bei ihm lernten wir einige wenige Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament und viele Paragraphen des Katechismus kennen. Von jener Zeit an begannen zwei Wünsche in meinem kleinen Herzen Raum zu gewinnen: Näher zu Jesus zu kommen und eine grössere Erkenntnis über Gott zu erlangen. Es war, als hätte ich den Ruf des Herrn in meinem Herzen gehört, auch wenn ich zu dieser Zeit noch nicht begriffen hatte, dass es in der Tat Gott war, der diese Wünsche in mein Herz gelegt hatte. Ausserdem hatte ich keine Ahnung, wie ich auf diesen Ruf antworten, geschweige denn, ihm gehorchen sollte. Ich konnte nicht in Gottes Wort nach Anleitung suchen, denn wir besassen keine Bibel. Und weder Kinder noch Erwachsene wurden dazu ermutigt, sich eine solche zu erwerben. Im Gegenteil, die höher gestellten Geistlichen vertraten die Ansicht, dass Bibellesen eine gefährliche Sache sei, da die Bibel Aussagen enthalte, die bereits zu verschiedenen Irrlehren geführt hätten. Nur die Kirche könne beurteilen und aus der Bibel auswählen, was geeignet sei, sonntags von den Kanzeln herab verlesen zu werden. Jeden Sonntag begleiteten uns unsere Lehrer in die nahe gelegene Kirche zur Messe, von der wir allerdings kein Wort verstanden, da sie in Latein gehalten wurde. Und so hungerte und dürstete das Herz noch viele Jahre nach Gott und nach seiner Wahrheit.

Dass ich nur keine vergesse!

Während der Grundschuljahre gibt es für römisch-katholische Kinder mindestens eine Gelegenheit, in der sie Jesus ganz nahe gebracht werden sollten. Es ist der feierliche Moment ihrer Erstkommunion. Unglücklicherweise wurde diese Feier für mich zu einer bitteren Enttäuschung. Der Grund dafür? Nun, bevor die achtbis neunjährigen Kinder zur Erstkommunion zugelassen werden, müssen sie ihre erste Beichte ablegen. Damit sie ihre Sünden in rechter Weise bekennen können, werden sie sorgfältig vorbereitet. Bei uns dauerte die Vorbereitung auf die erste Beichte und die Erstkommunion ganze sechs Monate, doch der Priester versuchte während dieser Zeit nicht, unsere jungen Herzen mit Vertrauen und Liebe für Jesus zu füllen, sondern er war vielmehr bestrebt, uns Furcht und Schrecken einzuflössen, indem er uns immer und immer wieder in Erinnerung rief, wie wichtig es sei, dass wir im Beichtstuhl dem Priester all unsere ‚Todsünden’ bekennen würden. Sollten wir auch nur eine davon vergessen, so wären wir für immer und ewig zur Hölle verdammt. Von der römisch-katholischen Beichtlehre aus betrachtet mochte dies korrekt sein, aber dennoch war – und ist – es eine schreckliche Sache, den empfindsamen Gemütern von kleinen Kindern eine solch grausame Lehre aufzuerlegen, welche in der Lage ist, ihre Herzen zu zerbrechen und ihr ganzes Leben zu verdunkeln.

Jener Unterricht bewirkte, dass wir uns gar nicht mehr auf die erwartete Begegnung mit Jesus freuten, sondern uns ausschliesslich auf die schwierige Aufgabe konzentrierten, uns an all unsere Sünden zu erinnern und herauszufinden, welche davon denn nun als ,Todsünden’ einzustufen wären. Denn diese durften wir ja auf keinen Fall vergessen. Die Furcht vor der ewigen Verdammnis, für den Fall, dass wir nicht restlos alle Sünden beichteten, lastete schwer auf unseren Herzen. Einige Kinder baten ihre Eltern, sie an ihre Sünden zu erinnern, andere brachten Stunden damit zu, endlos lange Listen ihrer Übertretungen aufzuschreiben, um sie danach auswendig zu lernen. Aber dennoch blieb die Furcht bestehen, dass im entscheidenden Augenblick der Beichte irgend etwas vergessen werden könnte. Und so nahmen einige verbotenerweise ihre Sündenlisten mit zur Kirche, knieten in den Beichtstühlen nieder und versuchten mit Angst und Zittern, den Priestern heimlich davon abzulesen.

Tiefsitzende Angst

Viele wurden diese Angst während ihres ganzen Lebens nicht mehr los. Sie schwächte und lähmte ihren Willen, bis sie vollständig unter die geistliche Diktatur ihrer Kirche und deren Klerus versklavt waren. Sie genügte, um diesen Menschen später weiszumachen, auch entgegen ihrem eigenen Gewissen einzig und allein der Kirche zu gehorchen, keine ‚ketzerischen’ Versammlungen zu besuchen, in denen das reine Evangelium gepredigt wurde, und nie auch nur in Gedanken einen Kirchenaustritt in Betracht zu ziehen. Für all diese Vergehen drohte die Exkommunikation und damit die sichere Verdammnis in alle Ewigkeit. Und auf jeden Fall genügte diese Angst, um viele Kinderherzen gänzlich zu zerbrechen und einige davon sogar für ihr ganzes Leben körperlich krank zu machen. Ich habe einige Opfer dieser religiösen Schreckensherrschaft gesehen und sie haben mich zutiefst erschüttert.

Wie kann ich dem Herrn dienen?

Nach dem Abschluss der Grundschule und der Sekundarstufe galt es, die richtige Berufswahl zu treffen. Immer noch vernahm ich, wie der Herr mich in seine Nachfolge rief, und immer noch fühlte ich in meinem Herzen den Wunsch, ihm mein ganzes Leben hinzugeben. Doch wie konnte ich dies bewerkstelligen? Ich war immer darüber belehrt worden, dass der einzige Weg zu Gott über seine allein wahre, sprich über die römisch-katholische Kirche führte. So sah ich denn auch keine andere Möglichkeit, seinem Ruf zu folgen, als ein Priester dieser einen wahren Kirche zu werden. Alle anderen Konfessionen wurden als falsch, ketzerisch, antichristlich angesehen, und ich glaubte fest, dass dem so war. Mein Entschluss stand fest und so schrieb ich mich für das Studium an der theologischen Fakultät der Universität in Lwow [dt. Lemberg] ein.

Voller Eifer auf der Suche nach Gott

Als Theologiestudenten mussten wir intern im Priesterseminar leben. Es war einem Kloster sehr ähnlich, auf einem Hügel gelegen, von hohen Mauern umgeben; die Zellen waren klein und die Korridore lang. Anfänglich war ich sehr glücklich dort. Alles war so ganz anders als in der Welt dort draussen und schien wie dafür gemacht, bald eine persönliche Beziehung zu Gott und unserem Erlöser zu knüpfen. Wir widmeten unser Leben nun hauptsächlich zwei Dingen: der persönlichen Frömmigkeit und dem Studium der Theologie. Beides schien mir ideal dafür geeignet, mich in die persönliche Gemeinschaft mit Gott durch seinen Sohn Jesus Christus zu bringen. So befolgte ich mit dem ganzen Eifer und der ganzen Kraft eines jungen Mannes alle Empfehlungen und Vorschriften der Kirche für die persönliche Frömmigkeit. Ich besuchte jeden Tag eine oder zwei Messen, ging jeden Morgen zur Kommunion und einmal in der Woche zur Beichte. Mit grosser Sorgfalt verrichtete ich meine Meditationen, Lesungen und Gebete, besuchte die Abendgottesdienste, betete den Rosenkranz und die Litaneien. Ich las viele Bücher über das Leben der ‚Heiligen’ und versuchte diesen aufrichtig nachzueifern. Schon bald galt ich als einer der eifrigsten Studenten im Seminar.

Aber all meine Anstrengungen und ‚Verdienste’ brachten mich meinem Erlöser nicht näher. Dies war für mich eine enttäuschende Erfahrung, doch ich war nicht der erste, der auf diesem Weg gescheitert war: Auch der Apostel Paulus versuchte vor seiner Bekehrung als ein hingegebener Pharisäer seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, indem er alle vorgeschriebenen Satzungen des Gesetzes aus eigener Anstrengung genau so zu erfüllen trachtete, wie ihn das die Rabbis gelehrt hatten. Dies brachte ihn jedoch nicht in Gemeinschaft mit Gott, und eines Tages musste er sich sein Scheitern eingestehen (lies Kapitel 3 im Philipperbrief). Und auch ich scheiterte auf dem Weg des religiösen Eifers.

Wunderschöne Gottesdienste

Als sogenannte Kleriker mussten auch die Theologiestudenten bei vielen der langen, aber wunderschönen Liturgiefeiern in der Kathedrale der Stadt anwesend sein. Der Erzbischof oder der Bischof, der die Zeremonie leitete, war umgeben von vielen Geistlichen in silbernen und goldenen, mit funkelnden Edelsteinen verzierten Gewändern. Der Hochaltar war mit prächtigen Blumen geschmückt und erstrahlte von einer Unmenge an Kerzen und elektrischen Lichtern, der Weihrauch verbreitete einen wohlriechenden Duft, die bedächtigen und exakten Bewegungen der zelebrierenden Kleriker und ihre mittelalterlichen gregorianischen Gesänge, all dies erzeugte eine derart mystische Atmosphäre, dass die Kirche vielen einfachen Gemütern wie ein Vorzimmer des Himmels vorkam. Doch nach und nach stellte ich fest, dass diese schönen, erhabenen Zeremonien blosse Äusserlichkeiten waren, hinter denen nicht der Geist Gottes stand. Manchmal war ich entsetzt, wie ehrfurchtslos die Priester ihre Handlungen ausführten. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie selbst nicht glaubten, was sie taten. Sogar die höheren Geistlichen steckten zuweilen während dieser feierlichen Liturgien in der Kathedrale ihre Köpfe zusammen, flüsterten miteinander und erzählten sich Witze. Sie machten sich sogar über die heiligen Aufgaben lustig, die sie ausführten. Manchmal erinnerte das Tempo, in dem sie die Rituale durchführten, an Beamte, welche schnell noch die letzten Papiere abheften, um möglichst bald das Büro verlassen zu können. Wie oft erinnerte mich dies an die bittere Klage, die der Herr seinem Propheten in den Mund gelegt hatte:

„Weil sich dieses Volk mit seinem Mund mir naht und mich mit seinen Lippen ehrt, während es doch sein Herz fern von mir hält und ihre Furcht vor mir nur angelerntes Menschengebot ist…“ (Jesaja 29,13). Ich erschauderte bei dem blossen Gedanken, dass auch ich eines Tages zu einem von jenen werden könnte, die unser grosser polnischer Dichter mit den folgenden Worten beschrieb: „Ohne Herz und ohne Geist, siehe, das Volk von Totengebeinen.“ (A. Miekiewiez)

Die Bibel mit kirchlichen Anmerkungen

Theologie wird als „Wissenschaft über Gott“ definiert und um uns dieses Wissen anzueignen, besuchten wir an der örtlichen Universität die Vorlesungen der besten Professoren – die ihrerseits auch Priester waren. In Verbindung mit Studien über das Alte und das Neue Testament hatten wir dort zum ersten Mal in unserem Leben endlich auch die Bibel zu lesen und zu studieren. Gewisse Bibelstellen wurden von unseren Professoren mit zusätzlichen Kommentaren versehen, und die Bibel, mit der wir arbeiteten, war eine von der Kirche anerkannte Ausgabe, die beinahe auf jeder Seite mit Anmerkungen, d.h. mit offiziellen Erklärungen der Kirche, versehen war. Ohne diese ‚Anmerkungen’ war es verboten, das Wort Gottes zu lesen, denn niemand sollte die Bibel anders verstehen, als es die Lehrmeinung der katholischen Kirche vorsah. Es dauerte nicht lange bis ich merkte, dass jene Anmerkungen die schlichte Bedeutung des Wortes Gottes eher verdunkelten und manchmal sogar das genaue Gegenteil von dem aussagten, was buchstäblich dastand.

Erste Zweifel

Und so stiegen einige Zweifel in mir auf und ich gelangte zu der Erkenntnis, dass da irgendwo irgend etwas falsch sein musste. Durch ein Studium der offiziellen Kirchenlehren, der sogenannten ‚Dogmen’, versuchte ich zu einer Lösung zu kommen. Was jedoch musste ich dabei entdecken? Einige Dogmen bauten gar nicht auf dem Wort Gottes auf, andere widersprachen ihm sogar völlig. Irgend etwas schien hier gründlich falsch zu sein. Doch was und wo? Jene Zweifel beschwerten mein Gewissen und so ging ich zu unserem ‚geistlichen Vater’, einem Priester, der eigens dazu beauftragt war, uns in unseren geistlichen Nöten Führung und Rat zu geben. Nachdem er sorgfältig zugehört hatte, was ich zu sagen hatte, gab er mir folgendes zur Antwort: „Du weisst ja, dass an den Lehren unserer Kirche nichts falsch sein kann, denn es handelt sich bei dieser Kirche um die einzige wahre Kirche Jesu Christi auf dieser Erde. Wenn da also irgend etwas nicht stimmt, dann mit deinem Gewissen, welches, da du noch ein junger Mann bist, gegen die Autorität der Kirche rebelliert. Diese Art geistlicher Versuchung ist typisch für junge Theologiestudenten.“ Und so riet er mir, ich solle mir keine Sorgen machen und nicht versuchen, nach einer Lösung meiner Zweifel zu suchen, sondern sie vielmehr schlicht und einfach vergessen.

Unsicherheit vor der Priesterweihe

Seinem Rat folgend, versuchte ich aufrichtig, meine Zweifel zu verdrängen oder zu vergessen. Oftmals kämpfte ich gegen die Stimme meines Gewissens an, die mich beständig daran erinnerte, dass hier etwas nicht stimmte, was ich jedoch nie allzu lange schaffte. Jener geistliche Kampf dauerte die ganze Zeit meines Theologiestudiums, bis zu dem Tag, als ich alle für die Ordination erforderlichen Prüfungen bestanden hatte. Nun galt es, eine äusserst schwere Entscheidung zu treffen. Denn immer noch zweifelte und fühlte ich, dass etwas nicht in Ordnung war, und daher wusste ich nicht, ob ich der Weihe zum Priester zustimmen oder mich lieber zurückziehen sollte. Doch da ich mich nicht auf meine eigenen Gefühle verlassen wollte, suchte ich einen der treuesten und erfahrensten Priester in der Stadt auf. Ich schüttete ihm mein ganzes Herz aus und fragte ihn, was ich denn nun tun sollte. Seine Antwort lautete: „Es gibt überhaupt keinen Grund, warum du dich von der Ordination zurückziehen solltest. Jeder hat bisweilen Zweifel in bezug auf die Lehren der Kirche, aber solange du gegen sie kämpfst, und sie loszuwerden versuchst, sind Zweifel noch keine Sünde. Und ausserdem wird der Erzbischof dir und deinen Kollegen unmittelbar nach der Ordination Arbeitsplätze in den Pfarrbezirken zuweisen, wo du dann so viel zu tun haben wirst, dass du künftig nicht einmal mehr die Zeit haben wirst, über deine Zweifel nachzudenken.“ Dieser Rat beruhigte mich, und so nahm ich die Ordination an und wurde Priester.

Der schlichte Glaube des einfachen Volkes

Nur ungefähr vierzehn Tage später wurde mir von der erzbischöflichen Kanzlei mein erster Dienst, nämlich der eines Hilfspriesters in einer kleinen Stadt im südöstlichen Teil Polens, zugewiesen. Der Priester, der die Pfarrei leitete, hielt mich anscheinend für zu jung und zu unerfahren, um in der Stadt zu arbeiten und vertraute mir daher die Seelsorge für die ländliche Bevölkerung in ungefähr zwölf Dörfern an, die zu demselben Pfarrbezirk gehörten. Jene armen Kleinbauern waren nicht sehr gebildet; sie hatten ein einfaches Gemüt, waren ihrer Kirche ergeben und bereit, alles zu tun, um ihr ewiges Heil sicherzustellen.

Sehr oft wurde ich von Mitleid für sie und ihre Kinder erfüllt, weil sie all das, was ihnen die Priester erzählten, vertrauensvoll glaubten. Die Priester galten als Repräsentanten Christi, als Mittler zwischen Gott und den Menschen und ihnen gebührte grösste Hochachtung. Es war erbärmlich und schockierend zugleich zu sehen, wie die Priester aus ihrer Position Kapital zu schlagen suchten: Nicht genug damit, dass sie jenen Menschenseelen die verschiedensten Varianten mittelalterlichen Aberglaubens beibrachten und sie mit der Angst vor der Hölle versklavten, schlugen sie aus deren Gutgläubigkeit auch noch materiellen Gewinn.

Ich lerne von Jesus

Dies war gewiss nicht die Art und Weise, wie Jesus mit der Volkmenge, welche zu ihm kam, umging. Er ermutigte mich, seinem Beispiel zu folgen und erfüllte mein Herz mit Mitleid für diese Menschen, die „ermattet und vernachlässigt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben” (Matthäus 9,36) und von ‚Mietlingen’ (Lohnarbeitern) beherrscht wurden. Das Vorbild des Guten Hirten löste in mir eine grosse Begeisterung für diese Arbeit aus, und ich führe meinen Entschluss, in bezug auf Lehre und Predigt so nah wie möglich an seinem Evangelium zu bleiben, auf Gottes Wirken zurück. Irgendwie wusste ich: Wo auch immer der Fehler lag, er lag nicht bei seinem Evangelium. Das Vorbild des Herrn Jesus zeigte mir auch, wie ich es vermeiden konnte, jemanden zu ängstigen oder zu erschrecken. Besonders den kleinen Kindern, die bei mir den Religionsunterricht besuchten, malte ich Jesus als ihren liebenden Hirten vor Augen, vor dem sie keine Angst zu haben brauchen, gemäss seinen Worten: „…Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes“ (Lukas 18,16b).

Sende dein Licht und deine Wahrheit…

Manchmal war es mir, als hätte ich diese einfachen Seelen, die mir anvertraut worden waren, tatsächlich dem Erlöser nahe gebracht, wohingegen ich selbst immer noch fern von ihm war. Ich war auf dem falschen Weg und war unfähig, den richtigen Weg zu sehen, der mich zu Gott führen würde. Lediglich zu einem war ich noch fähig: zum Beten. Wenn nachmittags niemand in der Kirche zugegen war, oder wenn spät abends nur das Mondlicht durch die bunten Fenster fiel und sanft die Dunkelheit vertrieb, schloss ich mich in der leeren Kirche ein und schrie auf meinen Knien zu dem Herrn: „O Gott, zeige mir den Weg aus der Finsternis heraus zu Dir! Lass mich erkennen, was falsch und was richtig ist!“

So betete ich jahrelang, aber nichts schien zu geschehen. Noch immer dauerte mein geistlicher Kampf an. Doch von Zeit zu Zeit machte der gnädige Herr mir deutlich, dass er meine Gebete hörte. Hin und wieder liess er einen Lichtstrahl in die Finsternis meiner Seele dringen, der mir half, den Unterschied zwischen dem Richtigen und dem Falschen zu erkennen. Das Richtige war auf den festen Felsen seines eigenen Wortes gegründet, während das Falsche auf dem Treibsand menschlicher Lehren und Traditionen errichtet war. In diesem seinem Licht sah ich zuweilen, dass das ganze Kirchensystem unter dem Urteil Gottes steht. Die folgenden Erlebnisse sollen als Beispiele für jene aufweckenden Lichtstrahlen in meinem Leben dienen.

Was ist mit diesem Mädchen los?

Einmal kam eine arme Bäuerin mit ihrer sechzehn Jahre alten Tochter zu mir. Unter Tränen klagte sie mir: „Irgend etwas ist mit meiner Tochter geschehen. Sie war früher ein fröhliches Mädchen, aber jetzt spricht sie von nichts anderem mehr als von der Hölle, und sie behauptet, dass sie bereits verdammt sei.“ Da ich niemals zuvor etwas Derartiges gehört hatte, schaute ich verwundert in das Gesicht des Mädchens. Sie war sehr blass und hatte einen verwirrten Blick. War sie besessen? Ich stellte ihr ein oder zwei Fragen, doch sie antwortete mir nicht; mit einem sonderbaren Lächeln begann sie mir stattdessen etwas über die Hölle zu erzählen. Zum Glück lebte sie nicht im Mittelalter, denn damals hätte man sie wohl als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Doch was war nun zu tun? Ich wandte mich an ihre Mutter: „Was meinen Sie, wann und wie dieser Zustand begonnen hat?“ Ich sollte erst später merken, warum sie nicht sogleich antwortete. Sie fürchtete sich nämlich davor, dass sie mich als Priester verärgern würde. Aber als ich betonte, dass ich ihr nicht helfen könne, wenn ich nicht alles über die Sache wüsste, erzählte sie mir, wenngleich auch zögerlich, schliesslich doch die ganze Geschichte:

Übereifrige Missionare

„Einige Monate vor Ihrem Arbeitsantritt in unserer Pfarrei“, so sagte sie zu mir, „kamen ein paar Mönche und führten in unserer Kirche eine grosse Missionskampagne durch. Vierzehn Tage lang war die Kirche jeden Morgen und Abend voll von Menschen. Sie kamen nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus entlegenen Dörfern, um die Missionsbotschaften zu hören. Meine Tochter besuchte all diese Gottesdienste und hörte gespannt jeder Predigt zu. Doch die Mönche predigten fast nur über die Hölle, die für Sünder bereitet war. Als sie wieder fort gingen, kaufte ihnen meine Tochter ein missionarisches Buch ab und begann, jeden Tag darin zu lesen. Aber dieses Buch ist voller Geschichten über die ewige Verdammnis und die Hölle.“

Unter Tränen schloss sie ihre tragische Geschichte. Nun wusste ich, was geschehen war. Ihre Tochter musste eine tief aufrichtige Person sein, die sich ihrer Sündhaftigkeit bewusst war. Doch dann kamen diese Mönche, die ihr wie Heilige aus dem Himmel erscheinen mussten, und verkündeten, dass Sünder in die Hölle kommen. In allen Farben beschrieben sie die Qualen, die dort auf die Sünder warteten, so dass das Mädchen letztendlich zu dem Schluss kam, dass sie, weil sie ja eine Sünderin war, bereits zur Hölle verdammt sei. Das Buch, das sogar von einem Bischof freigegeben worden war, bestätigte ihr noch diesen schrecklichen Gedanken. Welche geistlichen Qualen musste sie durchgemacht haben, bevor sich dieses sonderbare Lächeln entwikkelte und sich eine Geisteskrankheit anbahnte!

Verbrenn das Buch

Hier stand sie nun – eines von vielen Opfern der Schreckensherrschaft jener Kirche, die ich repräsentierte und der ich diente. Ich fühlte mich wie ein Angeklagter, welcher der Komplizenschaft dieser Grausamkeiten für schuldig befunden wurde, es sei denn, ich könnte etwas tun, um die Wunden zu heilen, die ihr durch eine geistliche Inquisition zugefügt worden waren. Ich war so entrüstet, dass ich der Frau ohne zu zögern empfahl: „Nehmen Sie Ihre Tochter mit nach Hause und als Erstes verbrennen Sie dort jenes Buch, so dass davon nur noch die Asche übrigbleibt, damit Ihr Kind nur nicht weiter in diesem Buch liest. Dann bringen Sie das Mädchen in die nächstgelegene psychiatrische Klinik und erzählen dort den Ärzten alles, was Sie mir erzählt haben. Man wird sie wahrscheinlich eine Zeit lang dort behalten und währenddessen müssen wir um ihre Wiederherstellung beten.“ Die beiden gingen fort und ich betete oft für dieses unglückliche Mädchen.

Völlige Wiederherstellung

Monate vergingen, bis eines Tages diese Frau mit ihrem Mädchen erneut zu mir kam, um mir für den Rat zu danken, den ich gegeben hatte. „Ich habe genau so gehandelt, wie Sie mir geraten haben. Nun ist meine Tochter als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen worden.“

Das Mädchen sah tatsächlich gesünder aus, der wirre Blick war verschwunden. Ich sprach mit ihr und sie gab mir vernünftige Antworten, ohne irgendwelche Aussagen über die Hölle zu machen. Doch noch immer drückten ihre Augen eine ganz tiefe Traurigkeit aus, als suchten sie Antwort auf die wichtigste aller Fragen: „Bin ich errettet oder bin ich verdammt?“ Oh ja, diese Frage ist für jeden wichtig – für dieses Mädchen, für mich und auch für dich. Von der Antwort auf diese Frage hing nicht nur ihre Gesundheit ab, sondern auch ihr ewiges Leben. So begann ich dieser armen Seele geduldig zu erklären, dass unser Herr Jesus Christus nicht gekommen ist, um uns zur Hölle zu verdammen, auch wenn wir diese verdient hätten. „Er kam, um dich zu erretten, und deshalb gab er sich selbst am Kreuz dahin, vergoss sein Blut und starb für dich, damit du einmal im Himmel bei ihm sein kannst.“ Und während ich noch so sprach, breitete sich gleich einem Sonnenstrahl ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht aus, das darauf hinwies, dass sie all ihr Vertrauen auf den Erlöser geworfen hatte. Die Ketten des höllischen Schreckens, die dem Mädchen einst von den Mönchen auferlegt worden waren, fielen ab, und sie ging mit ihrer Mutter in dem Frieden und in der Freiheit eines Gotteskindes heim.

Rastlose Beichtgänger

Der Herr liess mich vielen wertvollen und sensiblen Menschen begegnen, denen die Angst vor der ewigen Verdammnis in ihrer Kindheit eingetrichtert worden war. Es waren Männer und Frauen mit vorbildlichem Charakter, mit einem sanften Gewissen und dennoch waren sie ihr ganzes Leben hindurch von einer krankhaften Angst umhergetrieben. Sie gingen jede Woche, wenn nicht jeden Tag zur Beichte, sie brachten Stunden damit zu, ihre Sünden und Lebensumstände dem ‚Beichtvater’ zu bekennen, aber wenn sie von der Beichte weggingen, begleiteten sie unendlich viele Zweifel und Ängste. Es konnte ja sein, dass aus irgendeinem Grund ihre Beichte nicht rechtens war, und dass sie folglich, sollten sie plötzlich sterben, in die Hölle kommen würden. Solche Menschen stellen für die Beichtväter eine echte Plage dar, und wir wurden während der Ausbildung zum Priesteramt speziell für den Umgang mit Menschen geschult, die unter derartigen ‚Skrupeln’ leiden. Doch es schien nichts zu geben, was diese unglücklichen Seelen im Hinblick auf die wichtige Frage ihres Heils zufrieden stellen konnte.

Was ist mit diesem Jungen los?

Der Fall des Mädchens, welches von ihrer Angst befreit worden war, als sie ihr Vertrauen auf den Erlöser setzte, erinnert mich an einen Jungen, dessen tragisches Ende mir jedes Mal vor Augen stand, wenn ich in meine Heimatstadt zurückkehrte, um dort meinen Urlaub zu verbringen. Während ich bei meinen Eltern wohnte, hatte ich die traurige Gelegenheit, einen nahen Verwandten von mir zu besuchen, der einst als kleiner Junge dieselbe Grundschule besucht hatte wie ich. Jeden Tag spielten wir nach der Schule gemeinsam mit einigen anderen Kindern in einem Garten. Er war ungefähr zwei Jahre jünger als ich, hatte einen brillanten Charakter und bekam von seinem Lehrer immer ausgezeichnete Zeugnisse ausgestellt. Doch nach seiner ersten Beichte und der ihr vorausgegangenen Vorbereitungszeit war er völlig verändert. Er wollte nicht mehr fröhlich mit den anderen Kindern spielen, sondern suchte sich lieber einen abgelegenen Ort im Garten, wo wir ihn manchmal nahe an einem Baum stehend leise vor sich hin reden sahen. Seine Mutter fragte ihn jeweils: „Mein Sohn, was ist mit dir los? Warum führst du Selbstgespräche?“ Doch er wollte ihr keine Erklärung dafür geben.

Schlimmer noch: Auch mit seinen Schulleistungen ging es steil bergab. Er sass zwar bis spät in die Nacht an seinen Hausaufgaben, aber seine Gedanken waren so sehr von der Angst gefangengenommen, dass er sich nicht auf die Schulaufgaben konzentrieren konnte. Er wuchs heran und mit ihm wuchs die Angst, bis sie ihn völlig beherrschte. Es war ihm nicht möglich, das begonnene Hochschulstudium abzuschliessen. Er nahm verschiedene Arbeitsstellen an, wurde aber jedesmal nach einer kurzen Probezeit wieder entlassen. „Er ist nicht bei der Sache“, war die Begründung der Arbeitgeber. So kam es, dass er sich als erwachsener Mann von seiner armen verwitweten Mutter versorgen lassen musste.

Tragisches Ende

Nicht einmal die geschulten Psychiater konnten ihn heilen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war kurz vor dem Krieg. Er war damals ein Mann von ungefähr 35 Jahren. Nacht für Nacht weigerte er sich, zu Bett zu gehen, sondern stand bei eingeschaltetem Licht aufrecht mitten im Schlafzimmer und starrte mit angsterfüllten Augen vor sich hin. Dann kam der Krieg, und während der Besatzungszeit Polens durch die Nazis wurde er mit vielen anderen ergriffen und in ein Konzentrationslager gebracht. Dort hatten sie unter der strengen Aufsicht der deutschen Wärter sehr schwer zu arbeiten. Sein Arbeitseinsatz wurde als unzureichend befunden und die Lagerleitung wollte ihm nicht abnehmen, dass er durch seine Angst seelisch gelähmt war. Die grausamen Wärter begannen ihn derart zu schlagen, dass sie ihn in wenigen Monaten getötet hatten. Dies war das tragische Ende eines glücklichen Jungen, welcher der Stolz und die Hoffnung seiner Eltern war, bis sein zartes Gemüt unter die Schreckensherrschaft Roms gekommen war.

Die Kirche oder die Söhne der Kirche?

Doch trotz all jener Lichtblicke und Erfahrungen, durch die mir der Widerspruch zwischen dem römisch-katholischen System und dem Evangelium Jesu Christi klar wurde, meinte ich noch immer, dass die römisch-katholische Kirche die einzig wahre christliche Kirche der Welt sei, und versuchte, diese tragischen Geschehnisse dem Fehlverhalten einzelner Geistlicher zuzuschreiben. Einige von ihnen waren schlicht und einfach übereifrig in ihrer Aufsicht über die Seelen und Gewissen ihrer Herde, sie handelten ‚katholischer als der Papst’ und wollten mit schlechten Mitteln ein gutes Ziel erreichen, andere dagegen hatten ihren Glauben verloren und waren gewöhnliche ‚Broterwerber’ geworden, die ihr geistliches Amt in einer rein mechanischen Weise ausübten. Manchmal wurde mir mit Entsetzen bewusst, dass auch ich einmal einer der Letztgenannten werden könnte. Doch der Herr liess mich nicht in einen solch schrecklichen Abgrund fallen, auch wenn er lange und hart an meinem Eigensinn zu arbeiten hatte. Er gewährte mir weiterhin seine wunderbaren Lichtblicke und liess mich das Richtige und Falsche erkennen. Wenn sich dies auch über Jahre erstreckte, so waren doch einige dieser Erlebnisse so offensichtlich und wichtig für mich, dass sie bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis lebendig sind.

Unterwegs mit den Sterbesakramenten

Es war ein typisch verhangener, feuchter Vorfrühlingstag, Regen und Schnee gingen ineinander über, und ich war gerade von der Morgenmesse in der Kirche in mein Zimmer zurückgekehrt, als es an der Tür klopfte und der Kutscher eines Pferdewagens eintrat. „Vater, würden Sie bitte mitkommen und einem sterbenden Mann die Sterbesakramente verabreichen?“, fragte er mich. „Natürlich, ich komme sofort mit Ihnen“, sagte ich und ging zur Kirche hinüber, um die Sakramente und alle anderen Dinge zu holen, die in einem solchen Fall benötigt wurden. Nach wenigen Minuten sass ich auf dem unbequemen Strohsitz, und fuhr mit der Kutsche durch die Strassen der Stadt. Der Kutscher klingelte mit einer kleinen Glocke, worauf die Vorübergehenden als Zeichen ihrer Verehrung des Heiligen Sakraments auf dem Bürgersteig niederknieten und ihre Häupter senkten, so wie das in einem mehrheitlich römisch-katholischen Land üblich ist.

Zuerst die Beichte, dann die letzte Ölung

Bald erreichten wir eine kleine Hütte am Stadtrand und ich wurde in einen äusserst armselig eingerichteten Raum geführt, in dem die Dekke so niedrig war, dass ich meinen Kopf beugen musste, um nicht oben anzustossen. Die Bewohner des Hauses mussten sehr arm sein. Mitten im Raum stand ein grosses Bett, die ‚Matratze’ bestand aus etwas Stroh, das mit einem weissen Laken bedeckt war. Dort lag der sterbende Mann. Er war nicht sehr alt, erst ungefähr 46 Jahre, doch er sah ganz ausgezehrt aus, vielleicht von seiner Krankheit, der Armut oder der harten Arbeit? Ich wusste es nicht und ich hatte auch nicht die Zeit, Fragen zu stellen, denn ich merkte sofort, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er lag auf dem Rücken, seine Augen waren geöffnet und starrten an die Decke und er atmete schwer.

Ich musste mich beeilen und ihm die Sakramente spenden, bevor er starb. So sprach ich ihn sofort an, um ihn auf seine letzte Beichte vorzubereiten. Erst danach konnte ich ihm die heilige Absolution, die Kommunion und die Salbung mit dem heiligen Öl erteilen. Aber schon bald wurde ich unterbrochen, denn seine Frau, die weinend an die Wand gelehnt dabeistand, sagte zu mir: „Entschuldigen Sie bitte, aber ich denke, dass er Sie nicht hört, denn er ist bereits bewusstlos.“ Nun, dachte ich, vielleicht irrt sich die Frau und hält das für Bewusstlosigkeit, was vielleicht nur ein geschwächtes Gehör ist. Und so begann ich, ihm in die Ohren zu schreien: „Ihr Priester ist hier! Versuchen Sie sich an Ihre Sünden zu erinnern und bekennen Sie diese!“ Aber er nahm keine Notiz von mir. Er wandte mir nicht einmal sein Gesicht zu. Offensichtlich hatte er das Gehör vollkommen verloren.

Kein Zeichen von Bewusstsein

Seine Augen waren jedoch noch geöffnet. Vielleicht konnte er mich sehen? Ich wollte alles daran setzen, dass das Heil dieser Seele, welche dabei war, diese Welt zu verlassen, mittels der Sterbesakramente sichergestellt wurde, und so ging ich um sein Bett herum und plazierte mich seinem Gesicht gegenüber am Fussende des Bettes. Ich hoffte, dass er den Blick von der Decke senken und mich in meiner schwarzen Amtstracht, meinem weissen Chorhemd und der Stola wahrnehmen und begreifen würde, dass dies seine letzte Chance war, zu beichten und die Absolution zu erhalten. Ich wartete und wartete, aber er blickte nicht zu mir herab. Offensichtlich hatte er auch sein Augenlicht verloren, so dass er nichts mehr sehen konnte.

Nun versuchte ich ihn über den Tastsinn zu erreichen. Ich griff nach dem kleinen Kruzifix, welches ich immer in der Tasche mit den Sakramenten bei mir trug und drückte ihm dieses sanft an seine Lippen. Ich erwartete, dass er es küssen und damit zeigen würde, dass ihm bewusst war, was vor sich ging, doch er zeigte nicht einmal jene Reaktion. Alle Hoffnung war entschwunden.

Die Notlösung löst das Problem nicht

Da stand ich nun an dem Bett dieses Mannes, der im Todeskampf lag, mit all meiner priesterlichen Macht und Autorität, seine Seele zu erretten und für ihn den Weg zum Himmel zu öffnen, und war doch unfähig, eben dieses zu tun. O ja, natürlich, ich wusste von meinem Theologiestudium und der kirchlichen Ausbildung her genau, dass ich ihm eine sogenannte ‚bedingte Absolution’ erteilen konnte. Diese hätte auch ohne vorangegangene Beichte ihre Gültigkeit, unter der Bedingung, dass jemand seine Sünden aufrichtig bereut hatte, bevor er das Bewusstsein verlor. Doch was war, wenn dieser Mann seine Sünden vorher nicht bereut hatte? Gut, die Theologen würden sagen, dass es dann seine eigene Schuld wäre, und dass, wenn er sich in einem Zustand der ‚Todsünde’ befand, die ‚bedingte Absolution’ ungültig sei und er dann logischerweise in die Hölle kommen würde. Doch genau das wollte ich ja verhindern. Ich hatte schon genug Schwierigkeiten mit meiner eigenen Seele und wollte nicht auch noch schuld daran sein, dass die Seele dieses armen Mannes in die Hölle kam.

Friede von oben

Aufgewühlt stand ich da. Trotz all der Mittel, welche mir die Kirche zur Rettung einer sterbenden Seele in die Hand gegeben hatte, fühlte ich mich völlig hilflos. Auch selbst wenn ich sie angewendet hätte, wären sie in diesem Fall unzureichend und zu ungewiss gewesen. In meiner Not sah ich noch einmal auf sein gelbliches und ausgemergeltes Gesicht und da fiel mir etwas Seltsames auf: Seine Lippen bewegten sich. Sie bewegten sich in einem fort. Flüsterte er etwas? Und wenn ja, was? Ich hörte nichts, bis ich näher an ihn herantrat und mein Ohr nahe an seine Lippen hielt. Erst da vernahm ich ein äusserst schwaches Flüstern, doch den Inhalt verstand ich zunächst nicht. Erst als ich mit ganzer Aufmerksamkeit hinhörte, gelang es mir schliesslich, seine Worte zu verstehen: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Genau diese Worte hatte auch der Herr Jesus Christus ausgesprochen, als er starb, „damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“ (Johannesevangelium 3,16). Als er am Kreuz hing, übergab er mit jenem letzten Gebet seinen Geist in die Hände seines ihn liebenden Vaters: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Lukasevangelium 23,46). Und dieser Sterbende, der in seinem Todeskampf bereits die Wahrnehmung zur Aussenwelt verloren hatte, wiederholte mit immer leiserem Flüstern: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und so starb er.

Lebensbewährter Glaube

Die Kirche, beziehungsweise ihre Sterbesakramente hatten versagt, sie hätten die Seele dieses Mannes nicht erretten können. Aber der Herr gab mir in jenem Moment die feste Gewissheit, dass für den Verstorbenen meine bedingte oder unbedingte Absolution überhaupt nicht notwendig war. Wie sündhaft er früher auch gewesen sein mochte, er war durch seinen Glauben an den einzigen wahren Priester und Erlöser, Jesus Christus, errettet worden. Er brauchte zu seinem Heil keine letzte Ölung und keine Sakramente; meine priesterliche Hilfe war nutzlos. Schon lange muss sein Glaube sein hartes Leben geprägt und ihm auch während der letzten Krankheitszeit Trost und Gewissheit gegeben haben, so dass seine gläubige Seele selbst im Todeskampf die Bewusstseinsschranke durchbrechen und unaufhörlich beten konnte:

„Vater, in deine Hände…“

Rettender Glaube

Dieses Erlebnis war für mich eine echte Offenbarung, es war die wirkungsvollste Theologielektion meines Lebens. Am Sterbebett dieses Mannes zeigte mir der Herr, dass das Heil einer Seele nicht von irgendwelchen menschlichen Anstrengungen, Sakramenten oder Lehren abhängt, sondern vom Opfer des Herrn Jesus Christus am Kreuz und von unserem Vertrauen zu ihm, und durch ihn zu unserem Vater im Himmel. Erst nach meiner Bekehrung fand ich diese Wahrheit in der Schrift bestätigt, und zwar sowohl im Alten Testament („…der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“, Habakuk 2,4) als auch im Neuen („…wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben“, Römerbrief 1,17). Die Offenbarung dieser Wahrheit erschütterte zutiefst meinen Glauben an jenes römische Dogma, welches besagt, die Wirkung der kirchlichen Sakramente erfolge automatisch (‚ex opere operato’). Wie überaus froh bin ich heute, dass unser Heil nicht von diesen unsicheren Handlungen abhängt, die manchmal gar nicht vorschriftgemäss durchgeführt werden können, sondern von der Gnade unseres Vaters, die er uns durch das allerkostbarste Opfer, nämlich das seines geliebten Sohnes zuteil werden liess.

Gott führt mich in die Tiefe

Trotzdem klammerte ich mich auch weiterhin fest an meine ‚einzig wahre Kirche’, so dass der Herr mich schliesslich, als Antwort auf meine unablässigen Gebete um göttliche Erleuchtung, hart in die Schule nehmen musste. Ich wurde schwer krank und entwickelte ein Nierenleiden. Trotz aller medizinischen Versorgung ging es mir immer schlechter, bis ich nach eineinhalbjähriger Krankheitszeit an einen Spezialisten verwiesen wurde, der mir nach sorgfältiger Untersuchung mitteilte, dass die gesamte vorausgegangene Behandlung völlig falsch gewesen sei. Um mein Leben zu retten, müsse ich mich unverzüglich operieren lassen. Als ich ins Krankenhaus kam, ahnte ich nicht, welch lange und schwere Operation mir bevorstand. Nachdem ich aus der Narkose erwacht war, war ich so schwach, dass ich mich für einige Tage kaum bewegen konnte und am liebsten gestorben wäre.

Was soll mir das Leben?

Als ich über mein Leben nachdachte, empfand ich es als Versagen auf der gesamten Linie, als einzigen riesengrossen Fehler. Es war mir nicht gelungen, den Weg zum Herrn zu finden. Ich hatte das Ganze gründlich satt und sah den Tod als besten Ausweg. Da ich sowieso in Lebensgefahr schwebte, schien Sterben einfach zu sein. Der Arzt hielt meinen Zustand für so kritisch, dass er sogar einmal während einer Nacht selber bei mir vorbeischaute. Er vermutete, ich würde den Morgen nicht mehr erleben. Ich wurde ganz apathisch und verweigerte die Medikamente.

Willst du gesund werden?

Immer noch erwartete ich den Tod und mit ihm auch die Befreiung von meinen geistlichen Qualen, als mich an einem der folgenden Nachmittage meine Verwandten besuchten und einer von ihnen mich fragte:

„Betest du eigentlich für deine Genesung?” Als ich dies verneinte, waren sie sehr verwundert, und baten mich dringend darum, dies zu tun. Es war mir nicht möglich ihnen zu sagen, dass ich gar nicht gesund werden wollte, und weil ich sah, wie besorgt sie waren, und sie mir leid taten, versprach ich, ihren Wunsch zu erfüllen. Auch mein Arzt war sehr ärgerlich, als er hörte, dass ich meine Medikamente nicht einnahm, und so musste ich ihm versprechen, sie nicht noch einmal auf dem Nachttisch liegen zu lassen.

Bittet, so wird euch gegeben

Gegen meinen eigenen Willen hielt ich diese beiden Versprechen. Aber ich bat den Herrn, mich nur dann zu heilen, wenn er eine endgültige Wende in mein Leben bringen und ich ihm in Zukunft seinem Willen gemäss dienen könne. Dieses Gebet wurde sehr bald erhört. Mein Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag, so dass selbst die Ärzte völlig überrascht waren. Sie hatten, wie sie mir später offen eingestanden, kaum mehr Hoffnung gehabt, dass ich gesund würde. Nach einem zweimonatigen Aufenthalt im Krankenhaus wurde ich entlassen, und obwohl ich immer noch sehr schwach war, begann ich wieder zu arbeiten. Gespannt erwartete ich, wie der Herr meine geistlichen Probleme lösen und mich entsprechend Seinem Willen gebrauchen würde. Die Antwort kam nach ungefähr zwei Jahren, als mein geistlicher Kampf beinahe unerträglich geworden war. Es war am Ende des fünfzehnten Jahres meines Dienstes in der römisch-katholischen Kirche, als ich endgültig erkannte, dass ich mich am falschen Platz befand.

Entweder – Oder

Nachdem der Herr mir durch all die Jahre hindurch schon so viele Lichtblicke geschenkt hatte, führte er mich nun in eine Situation, in der ich einer Entscheidung nicht länger ausweichen konnte. Einerseits konnte ich in der römisch-katholischen Kirche verbleiben, in die ich hineingeboren und als deren Priester ich ordiniert worden war. Wenn ich dies tun würde, dann würde ich auch weiterhin alle Privilegien, die ein Priester hat, die Hochachtung meines Volkes, die Anerkennung meiner Vorgesetzten behalten, und mir ausserdem die Aussicht auf eine äusserst vielversprechende Karriere in der Kirchenhierachie bewahren. Meinen Glauben und die Hoffnung, jemals zu Gott zu finden, würde ich auf diesem Weg allerdings völlig aufgeben müssen.

Andererseits konnte ich diese Kirche verlassen und mein Priesteramt aufgeben – war doch beides mit vielen Irrtümern behaftet und nicht auf das Wort Gottes gegründet und mich in jedem Lebensbereich allein der Fürsorge Gottes anvertrauen.

Angst vor den Folgen

Wenn du meinst, ich wäre diesem erneuten Ruf Gottes sofort gefolgt, dann irrst du dich. Ich tat es nicht! Ich war einfach nicht in der Lage dazu, denn ich war zu schwach und zu ängstlich. Versuche einmal nachzuempfinden, was es bedeutet, wenn man dir von Kindheit an eingetrichtert hat, dass es „ausserhalb dieser einzigen Kirche kein Heil” gibt, dass, wer immer diese Kirche verlässt, in die Hölle kommt, und dass die schlimmsten Qualen an jenem Ort für die exkommunizierten Priester reserviert sind! Ein ‚abgefallener Priester’ wird in einem römisch-katholischen Land wie Italien, Spanien oder Polen von seinen eigenen Verwandten, Freunden und den meisten anderen nicht nur als Verräter der Kirche, sondern auch seines eigenen Volkes angesehen, denn ein ‚echter’ Italiener, Spanier oder Pole ist für sie immer zugleich auch ein römischer Katholik.

Ich musste daher mit gesellschaftlicher Ächtung und der Ablehnung von Seiten aller ehemaligen Freunde rechnen. Und dazu hatte ich nicht die nötige Kraft. Aber gleichzeitig war ich mir bewusst, dass es die letzte Chance war, die mir der Herr anbot. Trotzdem war ich nicht imstande, diese Entscheidung zu treffen. Und so dauerte der Kampf meines Gewissens ein weiteres Jahr an. Zu etwas war ich jedoch noch immer fähig: zum Beten. „Herr, tue etwas, denn ich bin zu schwach! Stärke meinen Geist! Hilf mir!“ So schrie ich Tag und Nacht aus den Tiefen meines Herzens zu ihm.

Seine Gnade siegt

Es war seine Gnade, die mich schliesslich überwältigte und mir genügend Mut gab, seinem Ruf zu folgen, ungeachtet aller Leiden, die mir begegnen würden. Ich setzte mein ganzes Vertrauen auf den Herrn. Und ich habe es seither niemals bereut. Er allein war es, der meine Bekehrung bewirkte, und daher gibt es auch von meiner Seite überhaupt nichts, dessen ich mich rühmen könnte. Es war mir, als würden seine ewigen Arme mich aus der Finsternis heraus zur wunderbaren Freiheit der Kinder Gottes emporheben.

Unterwegs mit dem Herrn

Und was geschah danach? Ich wurde oft gebeten, Zeugnis zu geben von all dem, was der Herr getan hat, um mich zu sich zu bringen. Es würde wohl ein ganzes Buch füllen, wenn ich von all dem Segen, der Güte und der unendlichen Fürsorge erzählen würde, die ich seit meiner Bekehrung von Gott empfangen habe. Vielleicht beginne ich eines Tages damit, ihm zur Ehre solch ein Buch zu schreiben. Diesen Bericht aber möchte ich nun beschliessen, indem ich ganz klar festhalte, dass all meine geistliche Not, meine Ungewissheit und meine Ängste völlig verschwunden sind, und dass ich mit dem Herrn so glücklich bin, wie ich es niemals zuvor war. Und ich wünsche und flehe, dass all jene, die sich noch immer in derselben Finsternis befinden, in der auch ich mich befand, bevor sich der Herr mir zugewandt hat, diese gleiche Glückseligkeit finden mögen!


Roman Mazierski wurde 1899 in Polen geboren und ist 1959 gestorben. Das vorliegende Zeugnis wurde noch zu seinen Lebzeiten, Ende der 50er-Jahre von der Evangelischen Allianz veröffentlicht. 1982 erschien eine Neuauflage bei ‚Mayflower Christian Books’. Ob Roman Mazierski das oben angedeutete Buch über die vielen Gnadenerweise Gottes in seinem Leben noch schreiben konnte, ist uns unbekannt.

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